Zeitzeugen 2022

Gebannt hörten rund 150 Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Michelstadt den Schilderungen von Henriette Kretz zu. Die 87-jährige Überlebende der Shoah erzählt im Rahmen eines digitalen Zeitzeugengesprächs, das von Studiendirektor Franz Bürkle in Zusammenarbeit mit Stephanie Roth vom Bischöflichen Ordinariat des Bistums Mainz organisiert wurde, anschaulich ihre bewegende Geschichte.

Da aufgrund der aktuellen Corona-Pandemiesituation ein reales Treffen mit der jüdischen Holocaustüberlebenden Henriette Kretz nicht möglich war, fand das Zeitzeugengespräch digital statt. Trotz der räumlichen Distanz gelang es Henriette Kretz sehr schnell, die Schülerinnen und Schüler mit ihrer Erzählung zu fesseln und zu berühren. 

Kretz, die als Tochter eines Arztes und einer Anwältin zunächst eine glückliche und geborgene Kindheit erlebte, musste nach dem Überfall Polens durch die Deutschen mit ihren Eltern fliehen. Die Familie ließ sich in Lemberg, der heutigen ukrainischen Stadt Lwiw, nieder. Dort lebten auch weitere Familienangehörige von Henriette Kretz. Ihr Vater arbeitete als Arzt in einem Erholungsheim. Als sie eines Tages russische Soldaten mit einem LKW fliehen sah, waren die Deutschen bereits auf dem Weg in die Stadt. Für die jüdische Bevölkerung, so auch für Henriette Kretz und ihre Familie, begannen damit Terror und Verfolgung. Henriette Kretz schildert, wie ihr Vater seine Arbeitsstelle verlor, sie selbst die Schule nicht mehr besuchen durfte und die Familie ihr Haus verlassen musste, um in einem jüdischen Viertel, das als Ghetto eingerichtet wurde, zu wohnen. Fortan musste die Familie Kretz immer wieder um ihr Leben fürchten. Eine ehemalige Patientin des Vaters versteckte Henriette Kretz, doch sie wurde von zwei Männern, einem Soldaten und einem Zivilisten, aufgespürt und in ein Gefängnis gebracht.

Kretz erinnert sich, dass sie als einziges Kind im Alter von 8 Jahren in einer voll belegten Frauengefängniszelle eingesperrt war und eines Tages ein neugeborenes Baby von einem Wärter brutal in die Gefängniszelle geworfen wurde, wo sich Insassinnen so gut es ging um den Säugling kümmerten. Schließlich wurde sie in ein jüdisches Ghetto gebracht, wo sie ihre Eltern wiedertraf.

Ukrainische Freunde der Familie versteckten sie, da man die im Ghetto eingesperrten Juden in die Vernichtungslager transportierte. So harrten Henriette Kretz und ihre Eltern in einem Kohlenkeller und auf einem Dachboden aus, in der Hoffnung, der Tötungsmaschinerie zu entgehen. Doch das Versteck wurde entdeckt und Henriette Kretz sowie ihre Eltern von Soldaten mitgenommen. Nachdem der Vater sich auf dem Weg weigerte weiterzugehen, lief Henriette Kretz weg, ohne zu wissen wohin. Sie berichtet, wie sie Schüsse hörte, dann das Schreien ihrer Mutter und dann abermals Schüsse vernahm. In diesem Moment wusste sie, dass sie keine Eltern mehr hatte.

Nun war Kretz schutzlos und auf sich allein gestellt. In dieser Situation erinnerte sie sich an eine Ordensschwester, eine ehemalige Patientin ihres Vaters, die ein Waisenhaus führte. Hier fand Henriette Kretz Schutz. Die Ordensschwester Celina versteckte mehrere jüdische Kinder und nahm sich auch Henriette Kretz an. Neben ihrem Onkel, der sie nach dem Krieg bei sich aufnahm und adoptierte, war Henriette Kretz die einzige Überlebende ihrer Familie.

Die Schülerinnen und Schüler zeigten sich nach dem Vortrag von Henriette Kretz tief erschüttert und betroffen. Im anschließenden Gespräch wurden zahlreiche Fragen zu Kretz weiterem Lebensweg und ihrem Umgang mit dem Erlebten gestellt. Henriette Kretz nahm sich viel Zeit und erzählte, dass sie zunächst in Antwerpen lebte und dann nach Israel auswanderte, nach einigen Jahren aber nach Antwerpen zurückkehrte. Inzwischen ist Henriette Kretz, die zwei Kinder hat, Großmutter.  Besonders beeindruckend ist Henriette Kretz Umgang mit den grausamen Erlebnissen, sie ist nicht verbittert und möchte als Zeitzeugin „nicht klagen, sondern warnen“.